Religon als Statement

Immer mehr Menschen bezeichnen sich als nicht gläubig. Allerdings wendet sich oft gerade eine junge Generation erneut der Religion zu. Dadurch verschwindet aber die selbstverständlich gelebte Religiosität im Alltag. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger über kollektive Identitätsbildung, Religion als Identitätsmarker und die Unzulänglichkeiten des Atheismus.

allah.wien: Gibt es einen Trend, dass jüngere Generationen in ihrer Ausübung von Religion in eine konservativere Richtung gehen als Generationen davor?
Thomas Schmidinger: Es gibt sicher welche, wo das so ist. Was dadurch verschwindet, ist die selbstverständlich gelebte Religiosität im Alltag. Für meine Großelterngeneration war Religion ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Da ist man am Sonntag in die Kirche gegangen und hat vor dem Essen ein Tischgebet gesprochen. Man hat aber auch gewusst, dass nicht immer alles nach Vorschrift abläuft. Dieser Zugang zur Religion, den ich im Nahen Osten bei Muslimen genauso wie bei alten Leuten in Österreich gesehen habe, dieser Zugang verschwindet.

Hängt das damit zusammen, dass Religion und Staat früher enger verbunden waren und die Gesellschaft jetzt säkularer wird?
Nein, es hängt damit zusammen, dass Religion ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft war. Sie war auf der ganzen Welt ein Teil des Lebens, über den man nicht besonders reflektiert hat. Es war keine Entscheidung ob man religiös ist oder nicht; man ist in eine religiöse Gesellschaft geboren worden, durch diese hindurchgegangen und in dieser gestorben.

Ist das nur in Westeuropa so oder kann man so eine Entwicklung auch im Nahen Osten beobachten?
Ich würde sagen, dass das ein globaler Trend ist, der aber unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Ich war in den letzten Jahren viel in Syrien und im Irak. Seit 2014, also seit den Schwerverbrechen des sogenannten „Islamischen Staats“, ist die Zahl junger Leute, die sich öffentlich und sehr schnell zum Atheismus bekennen, in diesen Ländern massiv gestiegen. Als ich Ende der 90er-Jahre das erste Mal im Nahen Osten war, da hätte jemand erst, wenn er eine andere Person sehr, sehr gut kennt, erwähnt, dass er Atheist ist. Das war so privat wie beispielsweise die sexuelle Orientierung. Es gab schon immer wieder einzelne Leute in der Region, die nicht gläubig waren, aber das hat man nicht öffentlich ausgesprochen. Heute kann es dir im Irak passieren, dass du von den Leuten im ersten Gespräch erfährst, dass sie Atheisten sind. Es ist nicht die Mehrheit, aber der alte, selbstverständliche Umgang mit Religion ist auch dort am Aussterben. 

Junge Generationen wenden sich also bewusst zu Religion hin oder von ihr ab.

Also ist es heutzutage ein Statement, wenn man religiös oder nicht religiös ist?
Heute leben wir in einer hochgradig pluralistischen und globalisierten Welt. Jetzt hat jeder von uns ein großes Angebot an Weltanschauungen und Religionen. Deswegen gibt es auch heute viele überzeugte Atheisten oder Leute, die keine Atheisten sind, aber bei denen Religion im Alltag keine Rolle spielt. Die größte Gruppe ist die, die sich ganz von Religion abwendet. Es gibt aber auch Leute, die sich sehr entschieden einer Religion zuwenden, aber bei denen gibt es keine selbstverständliche Überlieferung mehr, beispielsweise innerhalb der Familie. Man wird also heute oft durch das außerfamiliäre Umfeld religiös und nicht mehr durch die Familie selbst. Junge Generationen wenden sich also bewusst zu Religion hin oder von ihr ab.d also heute oft durch das außerfamiliäre Umfeld religiös und nicht mehr durch die Familie selbst. Junge Generationen wenden sich also bewusst zu Religion hin oder von ihr ab.

Inwieweit hängt diese Entwicklung auch mit Migration und mit einem dadurch verloren gegangenen Identitätsgefühl zusammen?
Da gibt es schon einen Zusammenhang. Religion ist ein in Europa akzeptierter Wert. Für junge Erwachsene der zweiten und dritten Generation ist die Zugehörigkeit zu ihrem Land nicht mehr so stark; manche können nicht einmal mehr die Sprache oder sie verwenden sie nicht als Erstsprache. Aber sie kommen hier auch nicht wirklich in die Gesellschaft hinein. Wenn sie jetzt nicht völlig in einer Ethno-Parallelwelt leben, aber trotzdem ständig anders behandelt werden, dann ist Religion ein akzeptierter und anerkannter Unterschied und eine Möglichkeit, sind in einer Wir-Gruppe gegenseitig zu bestätigen. In der dritten Diaspora-Generation entsteht so eine neue, kollektive Identität. Die Leute definieren sich nicht mehr als arabische oder türkische Österreicher, sondern als muslimische. Gerade das bildungsaffine, aber konservativere Element der jungen Muslime macht die Religion zu einer neuen, kollektiven Identität und Heimat.

Weil die Religion Werte liefert, an die man sich anhalten kann?
Werte, aber auch eine neue Form von Kollektivität. Man fährt gemeinsam auf Jugendcamps, man heiratet innerhalb derselben Gruppe. Der Verlust der gemeinsamen Heimat der Eltern und Großeltern ist dann nicht mehr so schmerzhaft, wenn man eine neue, kollektive Identität gefunden hat. 

Wie verändert sich dadurch das Verhältnis zu den Eltern?
Bei manchen verändert sich das Verhältnis schon. Ich kenne Eltern, die sehr verzweifelt sind, dass ihre Kinder auf einmal wahnsinnig religiös werden. 

Aber wollen nicht die Eltern auch an einer religiösen Identität festhalten und diese den Kindern weitergeben?
Nicht alle. Vielen betrachten Europa als Befreiung. Ich habe eine Zeit lang in der Flüchtlingsbetreuung gearbeitet und dort viele Flüchtlingsfamilien kennen gelernt, wo sich die Frau sofort hat scheiden lassen, als sie Asyl bekommen hat. Und diese Frauen sind dann verzweifelt, wenn ihre Söhne plötzlich religiös werden, weil sie dadurch selbst abgewertet werden. Aber das sind die Extremfälle. Es ist oft viel gradueller. Manche Eltern freuen sich sicher, dass ihre Kinder religiös statt drogenabhängig werden. 

Die atheistische Weltanschauung ist sehr individualisiert und intellektuell, sie ist relativ kalt.

Also kann es auch passieren, dass gerade Kinder aus Familien, die gar nicht religiös sind, sich jetzt der Religion zuwenden?
Das gibt es natürlich auch. Es gibt Menschen, die religiöse Bedürfnisse haben. Religion erfüllt unterschiedliche Funktionen und befriedigt unterschiedliche Bedürfnisse. Vielleicht haben sie das Bedürfnis nach kollektivem Ritus oder nach Zugehörigkeit. Eine der großen Schwächen des Atheismus ist sicher, dass er auf all dies keine Antwort hat. Die atheistische Weltanschauung ist sehr individualisiert und intellektuell, sie ist relativ kalt, sie sagt, „Nach dem Tod bist du halt nicht mehr da“. Wir haben weder atheistische rite de passage, wo wir Kinder in die Gemeinschaft aufnehmen, noch Rituale, wie wir Menschen, die nicht religiös waren, in Gemeinschaft verabschieden. Viele Kinder aus nicht praktizierenden Familien suchen dann diese Rituale wieder in einer Religion.

Wie ist diese Entwicklung zurück zur Religiosität einzuschätzen?
Leider suchen sich Menschen meistens Formen von Religiosität, die abwertend sind. Das sieht man oft bei denen, die sich ihre Religion neu zusammengesucht haben, weil sie sich ihrer religiösen Identität versichern müssen. Sie müssen sich versichern, dass sie den richtigen Weg gefunden haben und alle anderen auf einem Irrweg sind. Das halte ich für keine positive Entwicklung. Aber ich sehe den gleichen Umgang bei Atheisten, die auch der Meinung sind, sie haben als einzige Recht. Ich sehe eine Verhärtung in unserer Gesellschaft diesbezüglich, einen Unwillen, sich mit Menschen, die anders glauben, auseinanderzusetzen. Das finde ich eine sehr negative Entwicklung. 

Steckbrief: Dr. Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler und Kultur- und Sozialanthropologe. Er forscht zu den Themen Jihadismus, Internationale Politik und Naher Osten.


Sonja Pellumbi

Geboren in Tirana. Bachelor in Theater-, Film-, und Medienwissenschaft.