Genitalverstümmelung: “Männer brauchen keine unbeschnittene Frau”

Hayats Hände
Hayat erzählt über ihre Genitalverstümmelung, Foto: Annemarie Andre

Hayat* hat Angst. Ihre Schwester ist vor ihr an der Reihe. „Ich habe sie schreien gehört und bin unter das Bett von meinem Onkel gekrochen.” Hayat ist still und hält sich am Gestänge des Bettes fest. Ihr Onkel findet sie, zerrt sie aus ihrem Versteck und bringt sie zur Beschneiderin. Hayat fleht ihre Tante und ihren Onkel an, es nicht zu tun, doch sie bleiben hartnäckig. Auf dem Boden des Kinderzimmers, direkt auf der Erde und kleinen Steinchen breiten sie ein Stofftuch aus. Hayat muss sich darauf legen. „Sie haben die Beine auseinander gedrückt, mein Onkel hat mich mich bei den Schultern festgehalten, meine Tante an den Beinen,” sagt sie.

Hayats Stimme wird laut, wenn sie von ihrer Beschneidung erzählt. Die 20-jährige gestikuliert, manchmal unterbricht sie oder redet auf Englisch weiter, weil ihr das passende Wort nicht einfällt. Ihre Hände beginnen zu schwitzen, sie legt sie auf dem Tisch vor sich ab und hakt ihre Finger ineinander. Hayats Onkel und Tante sind für sie wie ihre Eltern, die Kinder der beiden bezeichnet sie als Geschwister. 

Hayat ist sechs Jahre alt, als die Beschneiderin sie verstümmelt. „Wenn du schreist, dann zwickt sie dich in den Oberschenkel und sagt: ‚Shht! Shut up!‘ Und du sagst: ‚Bitte, ich will sterben!’“ Beim letzten Satz entgleist Hayats Stimme. Sie rückt sich ihr rotes Kopftuch zurecht, das über ihren dunkelbraunen Haaransatz gerutscht ist. Nach der Beschneidung wickelt Hayats Tante ihre Beine mit einem Stofftuch zusammen. „Vierzig Tage waren meine Beine zusammengebunden”, erzählt die 20-Jährige. 

Infografik FGM
Infografik: Annemarie Andre

Es gibt vier Arten von Beschneidung. Die häufigste Art der Beschneidung ist die Sunna-Beschneidung. Dabei werden die Klitoris-Vorhaut, die Klitoris und inneren Schamlippen ganz oder teilweise entfernt. Dann folgt die sogenannte Infibulation, die auch Hayat hat. Dabei werden die gesamten äußeren Geschlechtsteile, die Klitoris und die inneren Schamlippen entfernt. Die blutigen Stümpfe der äußeren Schamlippen werden zusammengenäht. Es bleibt meist nur eine kleine, fingerkuppengroße Öffnung. 

Hayat ist in einem somalischen Dorf geboren, aufgewachsen ist sie bei der Familie ihres Onkels in der Hauptstadt Mogadischu. Er ist wohlhabender als Hayats Eltern und holt das kleine Mädchen deshalb zu sich. Dort leben sie in einer Wellblechhütte, das Dach hatte an vielen Stellen Löcher. Am Dorf, wo ihre Familie wohnt, gibt es keine Wellblechhütten. Sie wohnen dort in Zelten, erinnert sie sich. Von ihrer Schwester aus dem Dorf hat Hayat gehört, dass es dort nur stumpfe Rasierklingen zum Schneiden und Tierhaare zum Vernähen gibt. Hayat bekommt eine Betäubungsspritze im Vaginalbereich und wird mit einer richtigen Schere beschnitten. 

200 Millionen Frauen und Mädchen weltweit sind laut der Weltgesundheitsorganisation Opfer weiblicher Genitalverstümmelung – auch Female Genital Mutilation genannt. Der Großteil von ihnen kommt aus muslimisch geprägten Ländern in Nordafrika. Viele sind, wie Hayat, aus Somalia. 98 Prozent aller Somalierinnen sind beschnitten. In Ägypten, Äthiopien, dem Sudan und Mali sind es circa 90 Prozent. 

In Österreich gibt es circa 6.000 bis 8.000 Frauen, die von FGM betroffen sind. Unter dem Punkt Entwicklungszusammenarbeit steht ein kurzer Satz dazu im türkis-grünen Regierungsprogramm. Die zuständige Ministerin Susanne Raab will demnach ein “Augenmerk auf Gewaltschutz, wie z.B. weibliche Genitalverstümmelung” legen. Für eine Stellungnahme, welche Maßnahmen das konkret sein werden, war die Integrationsministerin nicht bereit.

Daniela Dörfler
Foto: Daniela Dörfler | MedCommunications

Die meisten betroffenen Frauen leben in Wien. In der Hauptstadt gibt es drei Einrichtungen, die FGM-Fälle behandeln: das AKH, das Wilhelminenspital und die Rudolfstiftung. Das Frauengesundheitszentrum FEM Süd ist eine zusätzliche Beratungsstelle für Betroffene. Von den knapp 8.000 Frauen kommen jede Woche zwei Betroffene ins Wiener AKH zu Daniela Dörfler.  

Die meisten von ihnen kommen wegen akuter Beschwerden. Beschnittene Frauen sitzen oft bis zu einer halben Stunde auf der Toilette, erzählt Dörfler. Die Beschneiderinnen lassen den Frauen nur eine circa 0,5 bis einen Zentimeter kleine Öffnung am Scheideneingang. Manchmal lassen sie noch ein zweites kleines Loch für die Harnentleerung. Fünf dünne Striche. Ein halber Zentimeter auf einem Lineal. Nicht einmal die Spitze des kleinen Fingers hat dort Platz. Der Urin rinnt nicht, er tropft aus der kleinen Öffnung. Das sind aber nicht die einzigen Folgen der Genitalverstümmelung. 

Die Frauen haben meist starke Menstruationsbeschwerden und leiden mitunter an chronischen Infektionen. Einige sterben unmittelbar nach der Beschneidung. Sie verbluten. Die meisten beschnittenen Frauen gehen auch in Österreich nur in Notfällen zur Frauenärztin- oder wenn sie schwanger sind. Vor dem Geschlechtsverkehr oder einer Geburt muss die Narbe, die durch die Beschneidung entstanden ist, geöffnet werden. Eine Möglichkeit ist die operative Öffnung. 60 solcher Operationen führt Dörfler pro Jahr durch. Oft wollen die Männer die Narbe aber selbst gewaltsam öffnen, wie bei Hayats Freundin. 

Es ist Tradition in Somalia, dass der Mann beim Geschlechtsverkehr in der Hochzeitsnacht die Nähte mit seinem Penis aufreißt. „Manche Männer sagen: ‘Ich bin ein Mann, ich bin stark, ich kann das öffnen’”, sagt Hayat. Sie erzählt von einer Freundin, die nach der Hochzeitsnacht zwei Wochen verletzt im Bett gelegen ist.

Für Hayat kommt eine operative Öffnung erst in Frage, wenn ihr zukünftiger Mann nach der Hochzeit sehen konnte, dass sie beschnitten und zugenäht ist. Somalische Männer würden nur eine beschnittene Frau akzeptieren, ist sich Hayat sicher. 

Seit Hayat mit 16 Jahren vor dem Bürgerkrieg in Somalia geflohen ist, lebt sie in Wien in einer Wohngemeinschaft für Geflüchtete. Auf einem großen Teppich in ihrem Zimmer stehen Lautsprecher. Sie surren, weil kein Gerät an ihnen angeschlossen ist. Hayat hört gerne somalische Musik. Einmal hat sie sogar ein Lied geschrieben. “Was du sagen” war sein Titel, im Lied macht sie sich über ihre schlechten Deutschkenntnisse lustig. Hayat beginnt zu singen, ihre Stimme ist hoch und melodisch. Auf Hayats Schrank neben dem Badezimmer steht ein großer Make-up Koffer voll mit Schminksachen. Sie legt einen rosaroten Lipgloss auf bevor sie das Haus zum Spazierengehen verlässt.

„Alles, was Allah sagt, mache ich“

Im Koran steht kein Wort über die Beschneidung von Frauen. FGM kommt nur in wenigen, fragwürdigen Überlieferungen vor. Dennoch befürworten Geistliche der schafiitischen Rechtsschule, einer der vier sunnitischen Rechtsschulen, die Genitalverstümmelung. Praktiziert wird die Beschneidung aber sowohl unter Sunniten, als auch unter Schiiten. Vieles ist Auslegungssache. Der Islamische Zentralrat in der Schweiz befürwortet sogar eine Form der Beschneidung, obwohl sie zuvor bei einer Konferenz islamischer Gelehrter verboten wurde.

Hayat betet fünf Mal am Tag, sie trägt Kopftuch und begeht den Ramadan. Auf ihrem Handy hat sie eine App, die sie an die genaue Gebetszeit erinnert. Hayat bezeichnet sich als religiös. Die Beschneidung, die in ihrer Kultur gängige Praxis ist, gehöre aber nicht zu ihrer Religion. „Wenn es im Koran wäre, würde ich es auch bei meinen Kindern machen lassen. Alles, was Allah sagt, mache ich”, sagt sie.

Foto: Annemarie Andre

FGM ist eine tief verwurzelte Tradition, die schon vor dem Islam existiert hat. Viele Mitglieder der nordafrikanischen Communities sind noch immer der Auffassung, dass nur eine beschnittene Frau rein ist und nur eine reine Frau einen guten Mann finden würde. Großmütter, Mütter und Tanten bestehen deshalb oft auf die Beschneidung. 

In der Frauenberatung FEM Süd im zehnten Bezirk in Wien arbeitet Umyma El-Jelede. In ihrem weißen Kittel sitzt sie in ihrem Besprechungszimmer, auf ihrem Schreibtisch liegen eine Menge Ordner und Akten. El-Jelede glaubt, einige Imame verwenden die fragwürdigen Überlieferungen des Koran als Vorwand, um die brutale Praxis zu legitimieren und um die Diskussion über gesundheitlichen Folgen von FGM beiseite zu schieben. 

Die 48-jährige hat im Sudan Medizin studiert und ist 2004 vor dem Bürgerkrieg nach Österreich geflüchtet. Seit dreizehn Jahren berät sie beschnittene Mädchen und Frauen in Österreich. Die Geschichten der Frauen bewegen sie noch immer. 

Als sie mit der Beratung begonnen hat, musste El-Jelede aktiv auf die Frauen in den Communities zugehen, um mit ihnen über FGM zu sprechen. Heute ist das anders. “Mittlerweile kommen die Frauen von sich aus”, sagt sie. Für El-Jelede ist das ein Erfolg. 

Die Frauen vertrauen ihr, weil sie viele und lange Gespräche mit ihnen führt und weil sie die Frauen zu Ärzten, vor allem zu Gynäkologen, begleitet. Auch die Ärzte vertrauen El-Jelede. “Das macht es einfacher”, sagt sie, die Frauen ließen sich eher untersuchen, wenn ein Vertrauensverhältnis besteht.  

El-Jelede hält Männer für die eigentlichen Schlüsselpersonen im Kampf gegen Genitalverstümmelung. Eine nicht beschnittene Frau komme für viele nicht in Frage. „Männer brauchen keine unbeschnittene Frau“, sagt auch Hayat. Unbeschnittene Frauen gelten als „schmutzig“. In Gambia sei eine beschnittene Frau zehn Kühe wert, eine unbeschnittene vielleicht eine, sagt El-Jelede.

Patriarchale Strukturen

Einer dieser Männer sitzt im neunten Bezirk in Wien. Abdalla Mohamed ist Obmann des Österreichisch-Somalischen Gemeinschaftsvereins. Er sagt, er sei gegen FGM.

So gut wie jede Somalierin ist Opfer von Genitalverstümmelung und dennoch ist FGM kein Thema im Verein. „Wir sprechen nicht darüber“, sagt Mohamed. 50 Männer sind Mitglied im Verein, aber nur drei Frauen. Es sei schwierig, den Kontakt zu den somalischen Frauen aufzubauen, sagt Mohamed. „Man kann nicht sehr offen über FGM reden.“ Mehr will er dazu nicht sagen. 

Die somalische Community gilt als sehr verschlossen, der Zugang zu den Mitgliedern ist schwierig, aber ausschlaggebend im Kampf gegen FGM. Darüber ist man sich in Österreich und auch in Deutschland einig. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes kämpft in Deutschland seit ihrer Gründung im Jahr 1981 gegen weibliche Genitalverstümmelung. Sie hat ein Konzept entwickelt, um die oft sehr verschlossenen Communities zu erreichen.

Die Organisation rekrutiert Mitglieder der Communities zu sogenannten “CHANGE Agents”. In einer sechsmonatigen Ausbildung lernen Männer und Frauen, wie sie Veränderungen und ein Umdenken in ihrer Gemeinschaft anstoßen. Eine dieser Change-Agents ist Habiba Al-Hinai. 

Sie thematisiert FGM auf Twitter, Facebook und ihrem Blog – alles auf arabisch, um die arabisch-sprechenden Communities zu erreichen. Auf der Homepage von Terre des Femmes ist unter den zehn Agents nur ein Mann.

El-Jelede kennt den schwierigen Zugang zu den männlichen Community-Mitgliedern, sie sagt: „Männer denken, FGM sei Frauensache. Wenn man die Frauen fragt, sagen sie, sie würden keinen guten Mann finden, wenn sie nicht beschnitten sind.”

Nicht bei meinem Kind

Hayat würde eine Beschneidung bei ihrer Tochter nie zulassen. So denken aber nicht alle ihrer Freundinnen, manche sind dafür. „Wenn es einen Verdacht gibt, dass es zu einer Beschneidung kommen könnte, wird das Jugendamt eingeschalten“, sagt El-Jelede. 

In Österreich gibt es momentan noch keinen eigenen Paragraphen, der Genitalverstümmelung unter Strafe stellt. FGM fällt derzeit unter die Straftatbestände der schweren Körperverletzung oder der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen. Das ist nach Paragraph 84 beziehungsweise Paragraph  85 mit bis zu zehn Jahren Haft zu bestrafen.

In Deutschland ist das anders. Seit 2013 ist die Verstümmelung weiblicher Genitalien im Paragraph 226 des deutschen Strafgesetzbuches geregelt und mit bis zu fünf Jahren Haft zu bestrafen. “Auch wenn es in Deutschland noch keine Verurteilung auf Basis dieses Straftatbestands gab, ist die Signalwirkung des Gesetzes nicht zu unterschätzen”, sagt die Sprecherin der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. 

Besteht in Österreich die Gefahr, dass Eltern ihre Töchter beschneiden lassen wollen, nimmt das Jugendamt die Familie und die Kinderärzte in die Pflicht. „Wenn die Eltern eine Beschneidung durchführen wollen, dann verlangt das Jugendamt eine Kontrolle”, sagt El-Jelede. Das Jugendamt schließt dann mit den Eltern des Mädchens einen Vertrag ab. Dieser hält fest, dass die Eltern alle sechs Monate ein ärztliches Attest vorlegen müssen, das bescheinigt, dass das Mädchen nicht beschnitten ist. Auch der zuständige Kinderarzt wird darüber informiert. Michael Sprung-Markes bestätigt, dass in seine Kinderarztpraxis im 16. Bezirk immer wieder Familien kommen, die ein solches Attest benötigen. Diese Untersuchungen werden in die Kartei eingetragen. Im Mutter-Kind-Pass gibt es keinen Vermerk. Sobald die Kinder 16 Jahre alt sind, gibt es überhaupt keine Kontrollen mehr.

El-Jelede klärt die Familien über die schrecklichen Folgen auf und hofft, dass sich die Eltern gegen eine Beschneidung entscheiden, bevor das Mädchen 16 Jahre alt wird. Sie sagt: „Wenn wir gegen FGM kämpfen, müssen wir die ganze Familie miteinbeziehen.“ Bei ihrer eigenen Familie hat sie das bereits geschafft. Sie hat ihren Bruder davon überzeugt, seine Tochter nicht beschneiden zu lassen. 

Die geborene Sudanerin will das Frauenbild in den nordafrikanischen Communities ändern. Sie geht zum Beispiel mit den Mädchen Radfahren, um ihnen zu zeigen, dass sie alles tun können ohne ihrem Frausein zu schaden. 

Hayat ist vor kurzem zum ersten Mal auf einem Fahrrad gesessen. Die ersten Versuche waren wackelig und sie ist vom Rad gefallen. Im Sommer, wenn es wieder wärmer wird, will Hayat es aber erneut versuchen. 


*Name von der Redaktion geändert