Ein wenig Ruhe inmitten der Hektik

Das Allgemeine Krankenhaus in Wien gilt als eines der bedeutendsten Universitätskrankenhäuser Europas. Das liegt nicht nur an den offensichtlichen medizinischen Leistungen. Auch die breit aufgestellte Seelsorge-Abteilung trägt zum guten Ruf des Hauses bei. Sechs Menschen über Glauben, Leid und das Leben.

Zwei Quader stechen aus dem Stadtbild Wiens heraus, als ständen sie dort schon ewig. Das Allgemeine Krankenhaus am Währinger Gürtel ist kein Krankenhaus. Das AKH ist eine Kleinstadt. So zumindest nennen die über 8.000 Mitarbeiter das größte Spital Österreichs. Jeder hat seinen Platz an diesem Ort der Hektik. Und doch ist da eine Gruppe, die nicht so recht in das Bild des schnelllebigen Krankenhaus-Alltags passen will.

Das Sekretariat der Seelsorger, die sogenannte „Interreligiöse Meile“, befindet sich im Erdgeschoss des ersten Quaders. Mitten im Geschehen liegen die Büros der Katholischen, Muslimischen und Evangelischen bzw. Jüdischen Seelsorge. Es sind kleine Gemeinschaftsräume, die allesamt mit Stühlen, einem Tisch, einer kleinen Küchenzeile und etlichen Bildern an den Wänden gefüllt sind. Dazu liegen immer mal wieder kleine Geschenke, Blumensträuße oder Schokoladentafeln auf dem Tisch. Die Menschen sind dankbar.

Christine Buchner und Erni Radlmair-Mischling arbeiten beide als Pastoralassistentinnen für die katholische Seelsorge. Eva Weisz ist der Mittelpunkt der jüdischen Patientenbetreuung und Seelsorge. Nermina Hindija leitet den muslimischen Zweig der Meile. Es sind nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Religionen, es sind besonders auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Persönlichkeiten, die die AKH-Seelsorge so vielfältig machen. Und doch verbindet sie alle eine Sache: der Glaube.

Die katholischen Seelsorgerinnen Erni Radlmair-Mischling (l.) und Christine Buchner (r.).

Ich helfe, also bin ich

„Es kann durchaus sein, dass der Pager während unseres Gesprächs geht“, sagt Buchner als wir uns im Sekretariat der katholischen Seelsorge treffen. Und wie in einem schlechten Drehbuch geht dieser Pager genau zwei Minuten später. Kein Problem, ein Kollege ist frei und kann sich um den Patienten kümmern. Alltag im AKH. Auch in der Seelsorge. Während Buchner telefoniert, erzählt ihre Kollegin Radlmair-Mischling, warum sie eigentlich Seelsorgerin geworden ist. „Ich sehe so einen roten Faden in meinem Leben. Ich war als Kind lebensbedrohlich krank“, sagt sie. Dazu kam das Engagement in der katholischen Jugend. Nach Anfängen in der Telefon-Seelsorge wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war: „Also wenn man will, kann man hier das Wort Berufung verwenden.“ „Ich glaube, jeden von uns treiben existenzielle Fragen um“, sagt Buchner über ihre Motivation, als sie von ihrem Telefonat zurückkommt. Sie erzählt davon, dass ihre Erfahrungen sie in diesen Beruf geführt haben: „Ohne Krise landet niemand in der Seelsorge.“

Die beiden katholischen Seelsorgerinnen sind nach ihren Aussagen gläubig. „Wenn ich nicht gläubig wäre, würde ich das nicht machen. Ich sehe das Christentum als eine sehr therapeutische Religion und begegne den Menschen mit dieser Hoffnung“, sagt Buchner. Beide beteuern aber auch, kritische Fragen an ihren Glauben zu haben. „Es ist heute selbstverständlich in der Pluralität zu leben“, ergänzt sie.

Die jüdische Patientenbetreuerin Eva Weisz.

Weil das Büro von Eva Weisz gerade von den evangelischen Kollegen benutzt wird, setzen wir uns im jüdischen Gebetsraum zusammen. Er ist sehr spärlich eingerichtet. Eine Vorsichtsmaßnahme. „Der Rest wurde kaputt gemacht oder gestohlen“, sagt Weisz. „Ich habe angefangen, weil ich mich darüber aufgeregt habe, dass die jüdische Auslage so kahl war. Da hat der Oberrabbiner gesagt, ich solle mich nicht aufregen, sondern etwas tun.“ Weisz ist eigentlich bio-medizinische Analytikerin und war lange im AKH angestellt. Sie übernimmt die Patientenbetreuung rein ehrenamtlich.

„Ich glaube an Gott. Ich halte den Sabbat ein und esse koscher. Aber wenn ich die traditionellen Vorschriften streng einhielte, würde ich hier nicht in einer Hose sitzen“, sagt Weisz. Trotzdem lässt sie ihren Glauben mit in die Gespräche und Abläufe einfließen. Besonders, wenn die Patienten streng gläubig sind.

Die Leiterin der muslimischen Seelsorge Nermina Hindija.

Das Büro von Nermina Hindija sieht aus wie das der katholischen Kolleginnen und Kollegen. Während wir uns zusammensetzen, räumt ihre Kollegin ihre Unterlagen zusammen und macht sich auf den Weg zu den Patienten. Sie umarmen sich zum Abschied: „Ruf mich an, wenn etwas ist.“ „Ich war schon immer jemand, der gerne geholfen hat“, sagt Hindija über ihre Motivation. „Ich habe als Kind den Krieg gesehen.“ Sie kommt aus Bosnien. Von klein auf musste sie helfen. „Ich hatte keine Kindheit. Das war auf der einen Seite schön, weil ich helfen konnte. Auf der anderen Seite ist es schade, dass man manchmal das Leben nicht so leben kann, wie man es gerne hätte.“

„Bei mir hat der Glaube erst 2010 angefangen. Da habe ich mir viel angelesen und meine Kultur, meine Religion kennengelernt“, sagt Hindija. Ihr Mann, sagt sie, habe sie auf diesen Pfad gebracht. Seit 2012 trägt sie Hidschab, ohne Druck von außen. Auch sie lässt ihren Glauben stark in die Gespräche mit einfließen.

Tag ein, Tag aus

Der Alltag der katholischen Seelsorger ist meist zweigeteilt. Entweder sie werden von Patienten gerufen oder sie gehen auf ihre Station und statten jedem Zimmer ein Besuch ab. Nicht alle Patienten nehmen das Angebot der Seelsorge in Anspruch. Es gibt auch feindselige Begegnungen. „Doch auch die können zu sehr spannenden Gesprächen führen. Man muss nur wissen, wann es besser ist, zu gehen“, sagt Buchner. Die beiden Damen wissen gleichzeitig auch um ihren Stand im Krankenhaus. „Die Menschen kommen in erster Linie ins Krankenhaus, weil sie ein medizinisches Problem haben. Als ich das gelernt hatte, hat mir das sehr geholfen, mich nicht mehr so zu kränken, wenn die Visite reinstürmt und ein Gespräch unterbricht“, sagt Radlmair-Mischling.

Bei Weisz sieht es ein wenig anders aus. Sie geht nur zu Patienten, die ausdrücklich darum bitten. Deswegen kommt es vor, so wie an diesem Tag, dass sie nur zu zwei Patienten gehen muss. „Jeder, der beten kann, betet für sich selber. Wir haben niemanden zwischen uns und Gott. Und wenn jemand es nicht kann, dann macht es die Familie. Und wenn die es nicht kann, dann kommt der Rabbiner und macht es.“ Seit einigen Jahren gibt es auch dank der jüdischen Seelsorge koscheres Essen für die Patienten, die es bestellen.

Hindija hat von ihrer Position im Vorstand aus viel organisatorische Tätigkeiten. Trotzdem greift sie den Kollegen und Kolleginnen bei Seelsorge-Gesprächen gern unter die Arme. Darüber hinaus besucht sie oft Patienten, die aus dem Osten ins AKH kommen, weil sie selbst aus Bosnien stammt und die Sprache beherrscht.

Ein großer Anteil des Alltags der Seelsorge ist die Zusammenarbeit mit dem Ärzte- und Pflegepersonal. Dabei können die Geistlichen ihren Kollegen kräftig unter die Arme greifen. Besonders auch durch ihre Ruhe. „Ich kann mich an eine Krankenschwester erinnern, die uns gerufen hat. Dann hat sie mit Tränen in den Augen gesagt, es sei gerade eine ältere Frau verstorben und niemanden kümmere es. Dann waren wir bei ihr, haben sie zum Abschied gesegnet und das Kreuz da gelassen“, erzählt Buchner. 

Von diesem Alltag kann auch Franz Gremmel sprechen. Er ist seit 13 Jahren Internist und Kardiologe an der Herzchirurgie des AKH. Vor dem Gespräch sagt er, es stehe noch eine wichtige Entscheidung an, der Pager könnte jede Minute gehen. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits Feierabend. Auch er ist gläubig, selbst wenn er in seinem Beruf viel Leid erlebt. Und doch, sagt er, habe eine persönliche Grenzerfahrung ihn in seinem Lebensweg bestärkt. Er erzählt von der Krankheit eines nahen Verwandten. Auch er sieht sich ein Stück weit als Seelsorger: „Ich habe das Privileg, mir als Internist unter Chirurgen Patienten auszusuchen, mit denen ich rede. Und da geht es nicht nur um medizinische Sachen, sondern auch um spirituelle.“ Das hat er am Anfang seiner Ausbildung gelernt, sagt er: Als eines Tages ein prominenter Patient vor ihm liegt und der zuständige Professor nicht ehrlich mit ihm und seiner Diagnose ist, verraten Gremmels Augen dem Kranken, was mit ihm los ist. Dieses Erlebnis brennt sich bei dem damals jungen Arzt ein: „In existenziellen Fragen gibt es keine Lügen.“ Und mit diesen Fragen würde die Krankenhaus-Seelsorge belastet werden. „Jeder Arzt ist dankbar, wenn er in seinem Handwerk unterstützt wird.“

Und auch Gabriela Simon kann von diesem Alltag erzählen. Frau Simon ist 47 Jahre alt und schwer krank. Thrombus in der Aorta, Teil-Auflösung der Bauchspeicheldrüse, Loch im Herz – um nur einige wenige Beschwerden aufzuzählen. Einmal lag sie sechseinhalb Monate im AKH, samt Intensivstation und 1%-Überlebenschancen. Trotzdem sitzt sie jetzt im Büro der katholischen Seelsorge und spricht mit uns: „Ich lebe. Das kann nur höhere Macht sein“, sagt Simon. Als sie von den ersten Erfahrungen mit der Seelsorge spricht, werden ihre Augen feucht und ihre Stimme bricht. 1997 verliert sie ihre Tochter. Sie erzählt, wie sie damals ihren Glauben verloren hat, als der Pfarrer sagt, Gott habe gegeben und gleich wieder genommen. „Ich wollte ihn erwürgen, gebe ich zu“, sagt Simon. Heute bereut sie es. Als sie schwer krank wird, nimmt sie die Hilfe der Damen in Anspruch. „Man hat viel für mich gebetet“, sagt sie und schaut immer wieder zu Christine Buchner herüber, die ebenfalls bei dem Gespräch dabei ist. Wenn sie über Gott redet, blickt sie aus dem Fenster hoch in den Himmel. Als würde sie jederzeit eine Antwort erwarten. Wieder wendet sie sich Buchner zu: „Seit sie da sind, habe ich das Gefühl, er steht hinter mir. Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft.“

Freud und Leid so nahe zusammen

In einem Krankenhaus sind Freud und Leid so nahe zusammen, wie wohl an keinem anderen Ort. Und das müssen auch die Seelsorger erfahren. „In der Regel haben wir mit Menschen zu tun, die merken, was man eh schon lange weiß. Dass das Leben begrenzt ist“, sagt Buchner. „Wir hatten vor kurzem eine Patientin, die überraschenderweise schwer krank geworden ist und dann auch ihre Fähigkeiten zu sprechen verloren hat. Wir konnten nicht verstehen, was sie wollte, das war sehr schwer.“ Die schlimmsten Schicksale gibt es immer wieder: „Am schwierigsten es für mich, wenn eine junge Mutter oder der Vater stirbt, und kleine Kinder zurücklassen muss“, sagt Buchner. „Aber besonders da sind wir gefragt, dass wir da sind.“ „Es gibt eben auch die Tage, an denen ich nahe an der Tränengrenze bin. Dann denke ich aber nicht, dass ich das nicht mehr machen will, sondern dass ich alles gegeben habe“, sagt Radlmair-Mischling. Weiter sagt sie: „Manchmal gibt es eben keinen Trost. Und dann halten wir das ein Stück mit aus.“

 „Seelsorge ist definitiv nicht für jeden“, sagt Hindija. Ihre schlimmen Schicksale teilen sich auf: „Nach einem Patienten kann es einem so schlecht gehen, dass man nicht weitermachen kann.“ Doch auch sie erzählt von schönen Begegnungen: „Eine schöne Rückmeldung ist es, wenn ich von Kollegen und Kolleginnen höre: ‚Schön, dass du da bist‘.“

Grenzen ziehen

Bei all der Dankbarkeit, die dem Personal der Seelsorge zukommt, ist es am Ende des Tages trotzdem ein leidvoller Job, der nicht so einfach nach Feierabend abgestreift werden kann. „Wir werden immer wieder darauf hingewiesen, eine Grenze zu ziehen. Aber ich erlebe das immer wieder, dass ich sehr viel mit nach Hause nehme“, sagt Buchner. „Wer andere begleiten will, muss sich selbst begleiten lassen“, sagt Radlmair-Mischling. Supervision ist ein großer Teil der Gesprächsaufarbeitung. Auch das Austauschen untereinander ist ein wichtiger Teil, um mit dem Erlebten fertig zu werden. Beide versichern, dass sie ihren Beruf gerne machen. Und trotzdem gibt es Tage, an denen sie am liebsten hinwerfen würden.

Bei Weisz gibt es da eine Abgrenzung. „Wenn ich den Patienten kenne, dann nehme ich sehr viel mit nach Hause. Und das kommt oft vor, wir sind eine kleine Gemeinde. Wenn ich den Patienten nicht kenne, dann hält sich das in Grenzen.“ Ans Hinwerfen denkt sie nie. „Die meisten Sachen bespreche ich mit meinem Mann oder ich rufe den Rabbiner an.“

„Am Anfang habe ich viel mit nach Hause genommen“, sagt Hindija. „Ich bin ein Mensch, ich kann meinen Kopf nicht ausschalten.“ Und doch sieht sie auch daran etwas Positives: „Es gibt Patienten, die tun einem so leid. Dann beginnt man, mit seinem eigenen Leben besser umzugehen.“ Und auch sie denkt nie ans Hinwerfen: „Ich möchte jeden Tag am liebsten da sein.“

Ein bisschen Ruhe

Das AKH ist ein besonderer Ort. Eine Kleinstadt, die Menschen verliert und Menschen heilt. Eine Institution, die von Natur aus einer Hektik verfallen ist. In der Medizin muss es schnell gehen. Schließlich geht es um Leben und Tod. Und doch bildet die Seelsorge eine Blase der Ruhe. Die, egal wo sie sich im Haus befindet, die Zeit ein wenig langsamer laufen lässt. Zum Wohle der Patienten, der Ärzte und der Pfleger. Die „Interreligiöse Meile“ ist ein Zufluchtsort, in dem alle Glaubensrichtungen Schutz und Hilfe finden. Und sollten sie sonst irgendwo im Haus auf einer Station liegen, reicht ein Anruf auf dem Pager. Der ist auch bei der Seelsorge immer zur Hand.

Quelle Beitragsbild: © MedUni Wien / AKH Wien / Houdek