Auf der Flucht vor Gott

Ein junger Afghane spricht über Alltag, Flucht und Atheismus.

Wie anders sein neues Leben hier doch ist! A.* sitzt entspannt in einem Wiener Studenten-Café. Er ist 29 Jahre alt. Er hat einen weiten Weg hinter sich. Sowohl ideologisch, als auch geografisch, denn 6.123 Kilometer trennen ihn von seinem früheren Leben in Afghanistan. Er nimmt einen Schluck Cappuccino und sagt: „In Afghanistan hast du immer im Hinterkopf, dass etwas passieren kann!“

Eine Straße in Afghanistan - solche Straßen prägten A.s Kindheit: Auf der Flucht vor den Taliban
Auf der Flucht vor den Taliban: Straßen wie diese prägten A.s Kindheit – pixabay, Tonwerte angepasst

Die Geschichte seines Lebens zeigt, wie vielfältig Fluchtgründe sein können. Begonnen hat alles, als er 2007 als Austausch-Schüler nach Minnesota durfte. Er packte in seinen Koffer eine afghanische Tracht und eine handgemachte Kopfbedeckung, um sie den Amerikanern zu zeigen. Auch die Amerikaner zeigten ihm etwas: ihr Christentum. Sie luden ihn zur Messe ein. A. sah, dass sie von ihrem Glauben genauso überzeugt waren wie seine Eltern vom Islam. Er begann Religion zu hinterfragen.

Beten, um nicht aufzufallen

A. hat ein besonderes Foto mitgenommen. Es zeigt eine junge Frau. Sie trägt einen kurzen Rock und kein Kopftuch. Es ist seine Mutter. Das Foto stammt aus der Zeit der sowjetischen Besatzung (1979 – 1989). Heute wäre ein solches Foto undenkbar. „Das war aber auch damals nur in den Städten möglich. Am Land spielte Tradition immer schon eine große Rolle.“

Wegen dieser fest verankerten Bräuche gewann die Religion nach der sowjetischen Besatzung schnell an Macht. Heute ist Afghanistan untrennbar mit dem Islam verbunden. A. stritt wegen des Glaubens immer öfter mit seiner Familie. Seine Eltern fanden, dass er vom rechten Weg abgekommen sei. Dabei seien seine Eltern gebildete Menschen, erzählt A.

„Früher oder später wäre mein Leben in Afghanistan in direkter Gefahr gewesen!“

„Es ist nur Zufall, dass ich in Afghanistan geboren bin. Woanders hättet ihr mich christlich oder buddhistisch erzogen. Weil ich bei euch bin, erwartet ihr, dass ich ein Moslem bin! Da steckt keine Logik dahinter!“, warf er seinen Eltern vor. Sie hatten keine Antwort, aber sie akzeptierten seine Ansichten auch nicht. A. wusste, dass seine Einstellung gefährlich war. „Früher oder später wäre mein Leben in direkter Gefahr gewesen!“, sagt A. Er beschloss zu fliehen.

A. hatte Glück, denn private Kontakte halfen ihm vor sechs Jahren bei der Flucht. Seine Eltern hat er seit damals nicht mehr gesehen, obwohl er häufig mit ihnen telefoniert. „Sie sagen noch immer, dass ich fasten und beten soll. Ich sag’ dann immer nur: ja ja.“ A lacht bei dem Gedanken.

A zeigt uns ein Foto von sich in Kabul. Neben ihm stehen Wachen mit einem AK-47-Gewehr. „Das Studentenheim war wie ein Hochsicherheitsgefängnis.“ A. erzählt von Wachtürmen und ständigen Sicherheitskontrollen. Die Uni in Kabul liegt auf der sogenannten Death Road. Die Taliban hatten das Gebäude mehrmals angegriffen. Mit einem Freund gründete er neben dem Studium eine Firma. Die Geschäfte führten sie aufs Land. „In den Bergen atmest du hinter jeder Kurve auf, wenn du keine Taliban siehst.“ Straßen spielten in seinem Leben schon immer eine Rolle. In seiner ersten Erinnerung sieht er sich am Schoß seiner Mutter in einem Bus. Die Familie floh vor den Taliban.

Ein Tempel in Indien: A hat ihn mit seiner Mutter besucht.
Ein Hindu-Tempel in Indien. A. hat das Foto gemacht. Über die Weihnachtsferien ist er nach Indien geflogen, wo er seine Familie nach sechs Jahren erstmals wieder trifft. Copyright A.

Duri wa Dosti – Ferne und Freundschaft

In Österreich studiert A. Wirtschaft und arbeitet für eine Hilfsorganisation. Die Politik beobachtet er mit wachsender Besorgnis. „Ich glaube nicht, dass der Rechtsruck schon seinen Höhepunkt erreicht hat“, sagt er und befürchtet, hier irgendwann keine Rechte mehr zu haben. Für Afghanistan wünscht er sich einfach Frieden. „Dann gehe ich zurück und lasse euch mit den richtigen Österreichern hier!“ A. lacht.

In Wien hat er über Tinder eine österreichische Freundin gefunden. Ihre Eltern wissen von der Beziehung. Seinen hat er noch nicht von ihr erzählt. Sie wissen auch nicht, dass er mittlerweile Schweinefleisch isst und Alkohol trinkt. Sie müssen nicht alles wissen. Außerdem gibt es ein persisches Sprichwort: „Duri wa Dosti“ Das bedeutet wörtlich übersetzt Ferne und Freundschaft. A. liebt seine Familie, doch er freut sich auch über die Distanz.

Anmerkung: * A. zog es vor, anonym zu bleiben.

Beitragsbild: Symbolfoto – Straße in Afghanistan, freie kommerizielle Nutzung: Pixabay


Johannes Mayrhofer

Johannes möchte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Deshalb studiert er Journalismus und Neue Medien an der FHWien der WKW.