Amir lebte sein Leben lang versteckt und in Illegalität. Seine Eltern flüchteten mit ihm wegen ihres Glaubens in den Iran, er flüchtet vor ihrem Glauben nach Österreich. Nach drei Jahren des Wartens auf Asyl in Österreich hat er zum ersten Mal in seinem Leben Gewissheit: Er darf bleiben. Die Geschichte eines jungen Mannes, der sich neu erfindet.
Wien. – Amir* lässt sich auf eine eierförmige Couch fallen. Rings um ihn sind graue Pölster drapiert. Er überlegt kurz, ob er sie gemütlich genug findet. Rutscht etwas hin und her. Schließlich steht er auf und schüttelt den Kopf. Sie gefällt ihm doch nicht. Amir sieht sich skeptisch um. Er hat genaue Vorstellungen, wie sein neues Leben aussehen soll.
Die Carla, der Möbelsecondhandladen der Caritas im fünften Bezirk in Wien, steht kurz vor Ladenschluss. Die letzten Besucher bummeln noch durch den Antiquitäten-Ramsch und halten Ausschau, ob sie doch noch etwas finden. So auch Amir, 22, aus Afghanistan. Er bleibt vor einem großen Holzschrank stehen. Öffnet und schließt die Türen. Begutachtet jeden Winkel. Qualität ist ihm wichtig. Er möchte nichts was man nach zwei, drei Jahren wieder austauschen muss. Er denkt langfristig, schmiedet Pläne. Plant seinen Pflichtschulabschluss, möchte eine Lehre als Metalltechniker machen. Ein richtig normales Leben wünscht er sich. Doch er möchte nichts überstürzen, sondern diesmal alles richtig machen.
Amir spricht leise und bedacht. Sein Deutsch ist gut, doch er legt merklich Wert darauf, möglichst wenige Fehler zu machen. Fällt ihm ein Fehler auf, verbessert er sich sofort und lächelt. In den drei Jahren des Wartens auf Asyl hat er intensiv Deutsch gelernt. Er hatte Zeit nachzudenken, was er möchte, von sich und seiner Zukunft. Er ist einer Fußballmannschaft beigetreten, hat Freunde gefunden und seinen alten Glauben abgelegt.
Erste Flucht als Sechsjähriger
Die Flucht nach Österreich ist bereits seine zweite. An das erste Mal kann er sich kaum noch erinnern. Er war sechs Jahre alt. Seine Eltern waren Bauern der Provinz Daikondi in Afghanistan. Sie gehörten den Hazaras an. Die Hazaras sind eine schiitische Minderheit, die vom Staat anerkannt wird. Nicht jedoch von den Taliban. Die sunnitische Terrororganisation, die sich zu dieser Zeit in Afghanistan bildet, akzeptiert keine Andersgläubigen. Schiiten werden verfolgt, bedroht oder ermordet. Die Familie befindet sich in Gefahr und lässt alles, was sie hat, hinter sich. Die Eltern flüchten mit ihren vier Söhnen aufgrund ihres Glaubens. Ein Glaube, den Amir dreizehn Jahre später aufgeben wird, um alleine neu anzufangen.
Doch das Land, in das sie flüchten, empfängt sie nicht mit offenen Armen. Wer Asyl möchte, braucht Geld. Damit kann man sich ‚Genehmigungskarten’ kaufen, die dazu berechtigen, im Land zu arbeiten und versichert zu sein. Doch für diese Karten muss man jährlich einen hohen Betrag zahlen. Geld, das die Familie nicht hat. Amirs Brüdern und seinem Vater bleibt nichts anderes übrig, als schwarz zu arbeiten. Anfangs besucht Amir noch eine Abendschule, die seine Eltern bezahlen. Doch sobald er schreiben und lesen kann, muss auch er arbeiten. Als Schwarzarbeiter hat man keine Wahl und auch keine Rechte, erzählt er. Er arbeitet auf dem Feld, als Metalltechniker und zeitweise so-gar als Immobilienmakler. Ausbildung braucht man meistens keine. Man macht einfach.
Amir ist zehn, als seine Mutter stirbt. Der Vater ist von nun an mit seinen vier Söhnen alleine. Die Unzufriedenheit über die Situation der Familie im Iran ist groß. Der Alltag in der Illegalität ist schwer für sie. Sie besitzen keinen Pass und keine Rechte. Amir ist un-zufrieden und rastlos. Neben seiner Arbeitsstelle als Metalltechniker trainieren abends immer wieder junge Männer Taekwondo. Nach der Arbeit geht er oftmals hin und schaut ihnen zu. Er ist fasziniert von der koreanischen Kampfsportart. Irgendwann be-ginnt er, selbst zu trainieren, nimmt an nationalen Wettbewerben teil. Er ist begabt und gewinnt schnell Preise.
Ein Film verändert alles
Amir ist Teenager, als er zum ersten Mal heimlich den ‚Jesus Film’ aus 1979 sieht. Dieser ist im Iran streng verboten. Der Film lässt ihn nicht mehr los. Er erzählt niemandem davon, nicht einmal seinen Brüdern. Für ihn ändert der Film jedoch alles. Er beginnt zum ersten Mal, seinen eigenen Glauben zu hinterfragen und versteht nicht, warum er bestimmte Dinge nicht essen darf, weil sie ‚Haram’ sind. Er möchte sich nichts von einem Imam oder einer Religion vorschreiben lassen.
Nach dem Tod seiner Mutter verlässt noch ein Mitglied die Familie. Amirs ältester Bruder beschließt, nach Afghanistan zurückzugehen. Die zunehmend schlechte Wirtschaftslage im Iran macht die Arbeitssuche für Schwarzarbeiter noch schwerer. Immer mehr Afghanen kehren zurück in ihre Heimat. 2017 vermeldet das UNHCR knapp 450.000 Rückkehrer. Die Aussichten in Afghanistan sind wirtschaftlich gesehen nicht besser als im Iran, doch sein Bruder lässt sich nicht von seinem Plan abhalten.
Mit neunzehn trifft Amir die schwierigste Entscheidung seines bisherigen Lebens. Er flüchtet aus einem Land, in dem er eigentlich gar nicht existiert. Vor einer Religion, die er nicht versteht. Aus einer Familie, mit der er nicht über seine Gedanken sprechen kann. Er malt sich aus, wie es ist, in Freiheit leben zu können, seinen Tag selbst zu gestalten.
Auf der Flucht aus dem Iran über die Türkei trifft er Tarik*. Tarik ist auch Afghane, auch Moslem. Sie eint der Gedanke an Freiheit, den sie mit dem Christentum verbinden. Gemeinsam flüchten sie über die Türkei nach Griechenland. Sie tauschen sich aus, bestärken sich, wollen beide konvertieren. Christen werden. In Griechenland trennen sich ihre Wege, doch ihr Kontakt bricht nicht ab.
Konvertiten setzen ihr Leben aufs Spiel
Christ zu werden ist weder im Iran noch in Afghanistan eine freie Entscheidung, die jeder selbst treffen darf. Amir weiß, was diese Entscheidung mit sich bringt. Sie kann für ihn den Tod bedeuten, wenn die Information in falsche Hände gerät. „Wer vom Islam zum Christentum konvertiert, kann sein Leben aufs Spiel setzen.“ bekräftigt auch Frederike Dostal, Leiterin des Referats für die Erwachsenentaufe in Wien. Dostal betreut seit zwanzig Jahren Täuflinge der katholischen Kirche und weiß, dass selbst die in Österreich lebenden Konvertiten in Gefahr geraten können. Fotos, Interviews oder Vi-deoaufnahmen können zum Problem für sie, aber auch für ihre Familien im Heimat-land, werden. Wer nicht in körperliche Gefahr gerät, dem kann all sein Hab und Gut in den Heimatländern entzogen werden. Die Anonymität der Täuflinge hat daher höchste Priorität.
Als Amir sich entscheidet, seinen Brüdern im Iran von seiner Entscheidung zu erzählen, wurde er bereits getauft. Es gibt kein Zurück für ihn. Seine Brüder haben es wohl schon geahnt, die Reaktion ist dennoch keine einfache für ihn. „Ja, sie sind böse, aber wir reden nicht oft darüber.“ sagt er.
Amir ist ein Jahr in Österreich, als sein Vater im Alter von fünfundsechzig stirbt. Seine Brüder erzählen ihm erst eine Woche später von seinem Tod. Sie haben Angst, ihn da-mit zu belasten. Sie wissen, dass er eine schwere Zeit durchmacht. Er möchte Gewissheit, eine Entscheidung, ob er bleiben darf oder nicht. Doch alles, was er tun kann, ist warten. Er lenkt sich ab, versucht über die Caritas Kontakt mit Österreichern aufzunehmen, spielt viel Fußball und geht regelmäßig zu Treffen der Evangelischen Kirche. Doch als er vom Tod seines Vaters erfährt, stellt er alles in Frage. Er möchte zurückgehen, alles ungeschehen machen, er hadert mit sich. Hinterfragt, ob seine Entscheidung die richtige war. Sein Vater hat nie erfahren, dass er Christ geworden ist.
Das Warten hat für Amir noch kein Ende. Ein weiteres Jahr vergeht, bis er zum ersten Mal in seinem Leben ein Gerichtsgebäude betritt. Er hat große Angst. Er weiß, dass die Entscheidung über den weiteren Verlauf seines Lebens abhängen wird. Dass er Fragen auf Deutsch beantworten wird müssen und dass viel auf dem Spiel steht.
Alles kommt schlimmer als erwartet. Im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) läuft das Gespräch schlecht. Er sitzt fünf Stunden ohne ein Glas Wasser in einem Raum und beantwortet Fragen. „Sie haben mich gefragt, wer die Kirche, in der ich getauft wurde, erbaut hat.“ Selbst Amirs Begleiter, sein Bibellehrer, war überfragt. Amir ist verzweifelt und ahnt, was er fünf Monate später mit Sicherheit weiß: Sein Antrag wird abgelehnt. Doch Amir schöpft Kraft und Hoffnung. Er hat keine andere Wahl und erhebt Einspruch.
„Der beste Tag meines Lebens“
Bereits ein halbes Jahr später hat Amir einen Termin beim Bundesverwaltungsgericht. Die Angst vor einem Déjà-vu ist groß, doch er merkt sofort, dass ihm der Prüfer gut gesinnt ist. „Das war wirklich der beste Tag meines Lebens.“ Er kann alle Fragen beantworten und hat bereits nach vier Wochen eine positive Antwort. Auf diesen Moment hat er drei Jahre lang gewartet. Jetzt muss alles schnell gehen. Er zieht aus dem Asylheim in Erdberg aus und findet eine Wohngemeinschaft als Zwischenlösung. Doch Amir möchte eine eigene Wohnung. Sie soll Teil seiner Zukunft und seiner Freiheit werden.
Als er sie findet, beginnt für ihn ein neues Kapitel. Er beginnt einen Job bei einer Fast-Food-Kette und macht sich mit jedem neuen Gehaltszettel Gedanken, wie er das Zimmer in seiner Wohnung einrichten möchte. Dabei denkt er viel über die Zukunft nach. Er möchte alles richtig machen. Ordnung in sein Leben bringen. Es ist das erste Mal für ihn, dass er an einem Ort bleiben darf und sich nicht verstecken muss. Seine Wohnung ist Ausdruck davon. „Ich will hier nichts, das mich an zuhause erinnert.“, sagt er, als er vor einer Reihe Perser Teppichen in der Carla stehen bleibt.
Amir hat klare Vorstellungen für die Zukunft. Momente der Reue überkommen ihn trotzdem, wenn er zurückblickt. Als er davon erzählt, fixiert er einen Punkt am Boden. Ausnahmsweise lächelt er nicht, wie er es sonst tut. Es hat keinen Sinn zu bereuen, man muss nach vorne schauen, sagt er schließlich. Er baut auf Österreich und arbeitet hart an sich.
„Am besten lernt man Deutsch mit alten Menschen.“ erzählt er, als er Gehhilfen in einer Ecke der Carla entdeckt. Sie sprechen meistens langsamer, das macht es einfacher für ihn. Wenn er Zeit hat, stellt er sich vor das Altenheim in Mödling und fragt nach, ob jemand mit ihm spazieren gehen möchte. Er hat nicht immer Glück, doch das macht nichts. Es macht ihm Spaß. „Wir werden auch alt, irgendwann, in Zukunft.“, sagt er. Da ist sie wieder. Die Zukunft, auf die er immer wieder zurückkommt. Doch er hat sich auch ein Mantra für die Gegenwart zurechtgelegt. Es raschelt auf seinem Unterarm in Plastikfolie. Eine Tätowierung, sie ist ganz frisch. „Don’t worry, be happy“ steht dort in dicker schwarzer Tinte.
*Namen wurde geändert
Lange Hamburg. Jetzt Wien.
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