Eineinhalb Jahre war Samir Anhänger des IS. Fast hätte er in Syrien für ihn gekämpft. Im letzten Moment schaffte er den Absprung.
Samir* war bereit zu sterben. Er wollte für die Freiheit der Muslime kämpfen. Dass er das nicht überleben würde, wusste er, doch er würde als Märtyrer gehen und danach ins Paradies kommen. Es war für ihn eine wunderbare Vorstellung. Doch dann griff sein Vater ein und bewahrte ihn vor dem sicheren Tod.
“Mein Vater hat mir das Leben gerettet“, sagt Samir. Denn er war drauf und dran, nach Syrien zu reisen, um dort im Namen des sogenannten Islamischen Staats (IS) zu kämpfen. Der Weg zum IS begann für den jungen Mann, der seit 2003 in Österreich lebt, bereits mit 14 Jahren.
“Die Hauptrolle hat der österreichische Staat gespielt”
Angefangen hat damals alles mit Kleinkriminalität. “Gar keine Frage, die Hauptrolle hat der österreichische Staat gespielt. Man hat das Gefühl bekommen, dass wir hier nicht akzeptiert werden, dass wir gehasst werden”, sagt Samir. Er begann, mit seinen Klassenkameraden die Schule zu schwänzen und Mutproben zu machen. “Wir haben Fenster- und Autoscheiben zerschlagen. Dann bin ich ins Gefängnis gekommen”, erzählt der 19-Jährige. Dort kam Samir zum ersten Mal mit Extremismus und Radikalismus in Kontakt. Andere Gefangene – Anhänger des Islamischen Staates, Syrien-Heimkehrer und Propagandisten – bestätigten ihm all das, was er ohnehin längst dachte. „Sie sagten mir, dass der Staat uns hasst und uns unterdrücken will. Dass sie unseren Ruf kaputt machen und nur schlecht von uns reden. Wir werden von ihnen nicht gebraucht“, erzählt Samir. Seine Gefängniskameraden hatten die “ultimative Lösung” für ihn: Er solle dem Islamischen Staat beitreten, für die Freiheit der Muslime kämpfen und als Märtyrer sterben. “Du wirst ins Paradies kommen und dort alles haben. Dein Name ist voller Ruhm und Ehre, wenn du fällst. Du stirbst als Legende.”, schwärmten sie ihm vor.
Überzeugt war der 14-Jährige damals aber noch nicht. Zu oft hatte ihn sein Vater schon vor Gruppierungen wie dem IS gewarnt. Sein ganzes Leben lang hatte er ihm eingeschärft, sich davor zu hüten. Als Samir aus dem Gefängnis entlassen wurde, empfahlen ihm seine Kameraden, mit denen er sich intensiv über den Islam unterhalten hatte, eine Moschee.
Samir ging also entgegen der Warnungen seines Vaters in die Moschee und lernte dort gute Freunde kennen. Er war der Neue, aber er war sofort voll integriert. Sie luden ihn zum Essen und Fußballspielen ein, nahmen ihn mit zum Grillen und Schwimmen. „Das war deren Propaganda, das habe ich damals nicht verstanden. Ich habe mich sofort richtig wohl gefühlt“, erzählt Samir. Die Anwerber des IS hatten ihn schon längst als Ziel auserkoren und sprachen ihn immer wieder an, einmal auch im Fitnessstudio. Sie machten ihm Komplimente zu seinem trainierten Körper, sagten, er wäre ein guter Kämpfer für den IS. “Sie führen dich in die Irre. Du fühlst dich so, als wärst du der einzige, hinter dem sie her sind, als wärst du ihr Mittelpunkt. Die haben ein Propagandasystem aufgebaut, als hätten sie 1000 Jahre daran gearbeitet!” Alles, was er wollte, konnte er von seinen neuen Freunden haben. Sie kauften ihm ein neues Handy, schenkten ihm Geld für neues Gewand, halfen sogar bei den Hausaufgaben. In der bunt gemischten Gruppe aus Studenten, Arbeitern und Arbeitslosen, Gebildeten und Ungebildeten fehlte es Samir an nichts.
IS spricht vor allem sozial Benachteiligte an
Samir ist mit dieser Erfahrung nicht allein. Mit der Masche richtet sich der IS an viele potenzielle Mitglieder – vor allem Personen aus sozial benachteiligten Milieus gehören zur Zielgruppe. Menschen, die oft wenig gebildet sind und keinen sozialen Rückhalt durch Freunde oder Familie haben. Das unterscheidet ihn auch maßgeblich von Al Qaida: Hier ging es vielmehr um die religiöse und idealistische Komponente. Um Teil von Al Qaida zu sein, musste man fast selbst ein Gelehrter sein. Der IS ist niederschwelliger, hier “arbeitet” man mit der sozialen und ökonomischen Komponente. Und so ist die Zielgruppe der IS-Anwerber unter anderem in Schulen, Diskotheken oder in Fitnessstudios zu finden. Sie versuchen, potenzielle Anhänger zu finden und sie zum Anschluss an die radikale Gruppe zu bewegen. Dabei richten sie sich aber nicht nur an Muslime – im Gegenteil: Teilweise radikalisieren sich Nicht-Muslime schneller, weil sie keine religiöse Vorbildung besitzen. Sie können die Ansichten des IS nicht mit anderen vergleichen. In Frankreich etwa ist ein großer Teil der Radikalen Konvertierte.
Die Zahl der Extremisten aus Österreich, die ins Kriegsgebiet nach Syrien oder in den Irak gereist sind oder reisen wollten, ist laut dem Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 2017 zurückgegangen. Bis Ende 2017 waren es insgesamt 313 Personen, von denen 59 noch vor der Abreise aufgehalten werden konnten. 94 Menschen kehrten aus den Kriegsgebieten wieder nach Österreich zurück, 55 sind laut dem Bericht wahrscheinlich im Krieg gestorben. Im Gegensatz dazu konnten in den ersten Monaten 2018 keine Reisen nach Syrien und in den Irak mehr festgestellt werden. Das liegt unter anderem auch daran, dass der IS aufgrund von militärischen Niederlagen an Attraktivität eingebüßt hat.
Gespräch mit Vater als Wendepunkt
„Meinem Vater habe ich immer Geschichten erzählt, wenn ich rausgegangen bin“, sagt Samir über seine Zeit als IS-Sympathisant. Wirklich vertraut hat er damals nur seiner Schwester. Ihr hat Samir letztlich auch erzählt, dass er mit der Ideologie des IS sympathisiert und sich sogar vorstellen könnte, für ihn in Syrien zu kämpfen.
“Ich war beinahe fertig rekrutiert”, erzählt er. Doch dann griff im letzten Moment sein Vater ein, führte ein intensives Gespräch mit ihm. Die Schwester hatte ihr Versprechen gebrochen und gepetzt. “Sie hat mir das Leben gerettet”, ist sich Samir heute sicher. Denn das Gespräch war ein erster Wendepunkt. Sein Vater rang ihm ein Versprechen ab: Für eine gewisse Zeit sollte Samir in eine Moschee gehen, die sein Vater ihm empfahl. Sollte er nicht überzeugt werden, dürfe er sich weiter mit seinen damaligen Freunden treffen, ja dann würde ihn der Vater sogar nach Syrien reisen lassen. Samir willigte ein.
Der junge Mann, der in Wien lebt, besuchte dann über längere Zeit die Moschee seines Vaters und setzte sich dort intensiv mit dem Islam auseinander. Er stellte fest, dass der Prediger dieselben Themen ansprach wie der IS, aber genau das Gegenteil zu ihnen sagte. „Ich habe mir die Meinung von verschiedenen Gelehrten zu bestimmten Themen angehört. Die waren dann plötzlich alle gleich“, erzählt Samir. Bis dahin sei er zu 100 Prozent davon überzeugt gewesen, dass die Ideologie des IS die einzig richtige sei. Dann aber habe der Imam sämtliche kritische Fragen, die er stellte, wie aus der Pistole geschossen beantworten können. „Nach ein paar Monaten habe ich mir gedacht: Es gibt keine andere Chance, der Typ hat einfach recht“, erzählt Samir.
Ein Beispiel für die unterschiedlichen Interpretationen ein- und desselben Themas durch den IS und andere gläubige Muslime stellt etwa der im Koran erwähnte Dschihad dar. Entgegen der vom IS fälschlicherweise in Umlauf gebrachten und auch in der westlichen Welt weit verbreiteten Meinung, Dschihad bedeute Heiliger Krieg, bezeichnet der Begriff ganz einfach Anstrengung auf dem Weg Gottes. Im Koran gibt es nicht den Dschihad, sondern zwei unterschiedliche. Dschihad an -Nafs ist der größte Dschihad, den man mit sich selbst führt. Samir übersetzt ihn mit “vor der eigenen Haustüre kehren”. Außerdem gibt es den militärischen Dschihad. Hier sagen beide Seiten, man müsse gegen Ungläubige kämpfen – der IS versteht das transnational, der Koran territorial. Während der IS meint, man habe dadurch die Pflicht, jeden Ungläubigen anzugreifen, beschreibt der militärische Dschihad im Koran, dass sich ein mehrheitlich muslimisches Land bei einem Angriff unter der Berücksichtigung gewisser Regeln kollektiv verteidigen darf.
Samir will anderen Betroffenen helfen
Samir hat sich schließlich doch noch vom IS abgewandt. Er hatte nicht nur Glück, durch seine Familie aufgehalten worden zu sein, sondern verdankt sein Leben am Ende auch sich selbst: Dank seiner Selbstreflexion hat er es geschafft, das System IS noch einmal in Frage zu stellen – um sich schließlich gegen ihn zu entscheiden. Heute möchte Samir anderen dabei helfen, es ihm gleichzutun: “Ich bin dankbar, es war mein Schicksal. Heute bin ich ein Insider auf beiden Seiten und kann anderen von meinen Erfahrungen erzählen. Die Leute glauben mir. Das ist viel wirkungsvoller, als wenn zum Beispiel ein Islamwissenschaftler oder ein Sozialarbeiter versucht, jemanden vom IS zurückzuholen.” Er arbeitet auch mit Sozialarbeitern zusammen und teilt so seine Erfahrungen mit anderen Betroffenen.
Heute scheint der Höhepunkt des IS in Österreich überwunden. Auch die Moscheen leisten ihren Beitrag dazu: Wer in Samirs Moschee über den IS spricht, der muss zwei Packungen Bohnen kaufen. “Das sind sechs Euro! Wer schenkt denn einfach so sechs Euro her?”
*Name wurde geändert
Vorarlbergerin incognito in Wien, im Herzen aber Wahl-Italienerin. Redakteurin bei medianet. Wenn ich nicht gerade schreibe, findest du mich bei den Pferden.